Großer Lauschangriff
Bei einer der verschiedenen auf die Razzien folgenden Infoveranstaltungen in der Roten Flora erzählt Joachim von der Durchsuchung in seiner Wohnung und dem Verhalten der Polizei und macht die Ereignisse damit ein wenig greifbarer. Er erzählt, dass in seiner Wohnung am 9. Mai Wanzen eingebaut wurden, heimlich bei der Durchsuchung, oder während er mit uns anderen in Alsterdorf im Knast saß. Von nun an wurde auch hier mitgeschnitten, ein Eingriff der trotz aller technischen Möglichkeiten der Aktenlage nach nicht alltäglich ist.
Was über die Wanzen bekannt ist findet sich in einem kleinen Stapel Papier. Das BKA behauptet, die Wanzen an und ausschalten zu können und so immer nur kurz „reingehört“ zu haben, ob denn Betroffene miteinander reden würden. Um das zu beweisen gibt es eine schicke Liste, die aufführt, wann sie denn abgehört haben und dass sie das natürlich immer gleich gelöscht haben wollen. Der Hauseingang wird mit einer Videokamera gefilmt um zu sehen, ob Betroffene das Haus betreten. Der ergänzende Spähangriff soll den Eingriff in die Privatsphäre angeblich möglichst klein halten, da man so einfacher ein- und ausschalten könne. Die Sicht der Kamera ist nach Ansicht der Behörden so schlecht, dass sie nach LKWs oder anderen Störungen kurz reinhören.
Das alles sei nötig weil sich, so sind sich Observierende und Telefonabhörende einig, manchmal Betroffene bei Joachim in der Wohnung treffen. Tatsächlich findet sich in der Akte ein einziges Gespräch, an dem Betroffene beteiligt waren.
Joachim ist am 1.April 2008 plötzlich und unerwartet gestorben. Noch immer fehlt er und wir müssen nun ohne ihn klar kommen. Bei Gedenkfeiern in der Kirche und in der Roten Flora versuchten wir, seine Freund_innen und Genoss_innen, Abschied zu nehmen. Dabei erinnerte ein_e Freund_in mit einem kurzen Text an die vorangegangene Repression:
„Für Joachim.
Jede Woche haben wir uns beim Gruppentreffen von SAND gesehen und gemeinsam diskutiert, gelacht, gestritten, Demos vor- und nachbereitet oder Flugblätter geschrieben.
Immer gegen die Atomkraft und systemkritisch.
Mehrere Jahre sind wir gemeinsam ins Wendland gefahren.
Mit dem Ziel, den Castor wieder zurückzuschicken, haben wir uns die Nächte um die Ohren geschlagen. Joachim wurde so schnell nicht müde.
Es hielt ihn nicht lange auf einem Fleck, er musste immer in Bewegung sein, hier Freunde begrüßen, dort Absprachen treffen oder einfach nur gucken, was am anderen Ende der Demo los ist.
Oft dachte ich: Wo steckt denn schon wieder Joachim?
Aber er wusste immer, wo der Rest seiner Gruppe ist und ging nie verloren.
Seine rot, blau gepunktete Mütze schon.
Neben Anti AKW Themen beteiligen wir uns auch an regionalen Protesten und bundesweiten Bündnissen. Joachim war immer engagiert dabei und ließ kaum ein Treffen aus.
Die Abende unter der Woche gehörten bei ihm dem Widerstand.
Aktuell arbeitete er im Bündnis gegen das Atomforum mit, welches im Mai in Hamburg stattfindet.
Auch das G8 Treffen in Heiligendamm war oft Thema auf unseren Treffen, wo wir gemeinsam hingefahren sind und protestiert haben.
Joachim ist, wie auch sechs weitere Aktivist_innen aus Hamburg, vor dem G8 Gipfel ins Visier von Polizei und Verfassungsschutz geraten.
Seine Telefone, privat und geschäftlich, wurden abgehört und er rund um die Uhr beschattet.
Am 9. Mai durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamtes über Stunden seine Wohnung und die Räume des Pflegedienstes, lasen in Tagebüchern und Patientenakten, es gab nichts Privates mehr.
Joachim betonte oft, er ließe sich nicht einschüchtern, zeigte kaum Angst und Verunsicherung.
Lebte weiterhin systemkritisch und war politisch sehr aktiv.
Monate später erfuhr er, dass in seiner Wohnung bei der Durchsuchung eine Wanze angebracht worden ist, die jedes private Gespräch mitgeschnitten haben kann. Gegenüber von seinem Wohnhaus war eine Kamera aufgestellt worden. Überwachung total!
Auch nach diesem krassen Einschnitt in seine Privatsphäre sagte er uns gegenüber kaum etwas über seine Gefühle.
Wir spürten, dass ihn dieser große Lauschangriff und die Überwachung seines Pflegedienstes sehr beschäftigten und bedauern, dass wir ihm hier nicht intensiver helfen konnten.
Auch wenn das Verfahren demnächst eingestellt wird, denn es gab gegen keinen der Beschuldigten jemals konkrete Tatvorwürfe oder Beweise, hält sich die Freude in Grenzen.
Was hat die totale Überwachung/ ein Leben ohne Privatsphäre mit den Betroffenen gemacht?
Was in den 250 Aktenordnern steht, darüber können wir nur spekulieren.
Joachim, bei unserem Kampf für eine andere Gesellschaft werden wir dich immer im Gedächtnis behalten und in deinem Sinne weiter kämpfen.“