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vergessene Tage
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Die vergessenen Tage

Von den 365 Tagen im Jahr können wir uns wahrscheinlich an die wenigsten erinnern. Kaum eine_r schreibt Tagebuch und auch dann stehen dort wahrscheinlich eher Ereignisse, die man sich auch so gemerkt hätte. Weil sie einem eben wichtig waren.

Ich hatte tatsächlich einige „tagebuchähnliche Aufzeichnungen“, die mit der Erklärung mitgenommen wurden, dass deren Verwertung zwar verboten sei und man das auch wisse – es aber dennoch der Staatsanwalt durchlesen wolle, um festzustellen, dass er das tatsächlich nicht hätte haben sollen. Natürlich wurden die Notizen dann mit Zusätzen versehen ordentlich kopiert und ausgewertet in die Akte geheftet. Meine Notizen seien, so erfuhr ich beim Durchlesen der Asservatenliste, nicht verfahrensrelevant.

Wie ein Tagebuch der anderen Art lesen sich auch die Observationsprotokolle. Sie sähen aus wie die Stasi-Akten über ihren Vater meint eine Freundin, was ich nicht beurteilen kann. Wahrscheinlich sind sich alle Geheimdienste und Polizeistellen1 irgendwie ähnlich. Insbesondere was ihren Output an Papier angeht.

Etwa 1180 Seiten dieser Protokolle finden sich in den ausgehändigten Akten. In vier Ordner gepresst können wir nun lesen was wir so getan haben – wenn wir „unseren Teil“ herausgefiltert haben. Die Ordner wirken wahllos zusammengesetzt, die Auswahl der Protokolle (eine Vollständigkeit kann ich nicht erkennen) erschließt sich nicht. Auch wenn mir klar ist, dass eine „Fachkraft“ Stunden und Tage lang damit zugebracht hat, diese Akte so zusammenzustellen, scheint es, als sei einfach alles was herumlag gelocht und ausgehändigt worden.

Nun liegen sie also vor mir, die von mir vergessenen Tage, gute fünf Monate meines Lebens, und es wirkt irgendwie technisch: Ausgedruckt und einsortiert. An manches erinnere ich mich tatsächlich wieder und dennoch bleibt es nicht greifbar sondern merkwürdig farblos und abstrakt.

Ich weiß, was du letzten Winter an hattest

Viele der Observierungsprotokolle beginnen mit einer kurzen Beschreibung meiner Kleidung und einer ausführlichen Beschreibung der Kleidung (und was ihnen sonst noch aufgefallen ist) meiner „Kontakt-Personen“. Nun kann ich also lesen, dass ich im Winter Outdoorhosen trage, an die ich mich nicht so recht erinnern kann, dafür an meine mal als Wollmütze, mal als Pudelmütze identifizierte Kopfbedeckung.

Meine Freund_innen und Bekannten werden nach Größe eingeordnet, mit einer Frisur oder wenigstens Haarfarbe versehen, bekommen willkürlich eine Geschlechtsidentität und werden nach Lust und Laune nach ihrer vermeintlichen Herkunft einsortiert. Und natürlich bekommen auch sie Kleidung. So einfach ist das alles in der Welt der Observierenden in der es keine Zwischentöne gibt.

Verschwundene Kleidung von vergessenen Tagen untermauert mit einem Haufen Fotos zur Illustration. Wo war nochmal diese Basecap? Die steht mir ja irgendwie ganz gut.

Shoppen?!

Mittags um Eins sind die Vorhänge in meiner WG noch zugezogen und das bekannte Auto steht vor der Tür, ebenso wie das Fahrrad, das so wollen sie erkannt haben, oft von mir benutzt wird. Es muss kalt sein, schließlich ist Februar und so wundert es nicht, dass ich gegen 16 Uhr mit einer „Pudelmütze“ bekleidet aus dem Haus gekommen sein soll, um schon eine Viertelstunde später den nahe gelegenen Elektrogroßhandel zu betreten. In nur 14 Minuten habe ich es anscheinend geschafft, mir Elektrorasierer und Digitalkameras anzugucken, um mich dann für einen Rasierer zu entscheiden. Vorbildlich trete ich aus der Schlange als ich angerufen werde, um dann nach Beendigung des Telefonats zu bezahlen und denselben Weg wieder zurückzugehen.

Was habe ich dann gemacht? Habe ich den Rasierer ausprobiert? Geschlafen, gelesen, gegessen oder telefoniert? Und warum war das Teil eigentlich nach einem guten Jahr schon kaputt?

Das LKA konfrontiert mich mit den Banalitäten meines Lebens und liefert keine Antworten auf meine Fragen.

Studieren mit Kindern

Oft beginnen die Berichte erst am Mittag. Anscheinend wird davon ausgegangen, dass ich Vormittags nichts spannendes erlebe, wahrscheinlicher erscheint mir, dass der Vormittag einfach nicht ausgehändigt wurde.

Wie dem auch sei, Anfang Februar verlasse ich jedenfalls mit einer hellblauen Basecap auf dem Kopf meine Wohnung, die, laut Protokoll, sieben Minuten vom Bahnhof entfernt lag. Ich kaufe ein und es kann diesmal nicht festgestellt werden was. Dann fahre ich mit der S-Bahn zur Uni, hole ein Buch aus der Bücherei und schlendere über den Campus. Ohne in der Mensa zu essen gehe ich in ein selbstverwaltetes Uni-Cafe.

Eine Freundin reist mit zwei Kindern und einem Kinder-Fahrradanhänger an. Die Kinder steigen nicht etwa aus sondern werden ausgeladen. Sie unterhält sich mit einer nicht näher beschriebenen Person und geht dann zu mir in das Cafe.

Anscheinend habe ich die Kinder dann einige Stunden beaufsichtigt, jedenfalls komme ich um 16 Uhr mit den Beiden alleine wieder raus und brauche tatsächlich 14 Minuten, um sie in den Anhänger zu laden. Den schiebe ich dann durch die Gegend, nicht ohne hin und wieder zu stoppen und mich mit den Kindern zu beschäftigen.

Eine Stunde später habe ich sie in ein benachbartes Wohnviertel geschoben und ein Haus betreten. Als ich dasselbe um halb sieben verlasse, ist noch keine mir zugeordnete Person dabei gesehen worden, wie sie ins Haus ging. Ich soll noch eine Preisliste vom Getränkemarkt geholt und zum anarchistischen Zentrum getragen haben, bevor um 19 Uhr die Observation abgebrochen wurde.

Ziemlich langweiliger Tag irgendwie.

Eine Frühlings-Radtour

Mitte März ist das LKA früh aufgestanden, um mich zu ALDI zu begleiten und danach vor meinem Haus zu warten.

Mittags klingelt eine, laut Protokoll, weibliche Person in den 20ern an meinem Haus in dem acht Wohnungen sind. Sie betritt das Haus und geht zwei Stunden später wieder raus. Sie steigt auf ihr Rad und fährt zu einer Drogerie, um danach mit ihrem Schlüssel ein Haus aufzuschließen und darin zu verschwinden. Für Einkauf und Radtour hat sie 25 Minuten gebraucht – eine knappe halbe Stunde nach der das LKA die Lust an ihr verliert und sich schnell wieder aufmacht, um die Observation an meiner Wohnung fortzusetzen.

Gegen Abend wird ein Fahrrad neben meinem angeschlossen und der Fahrer betritt „mein Haus“. Danach kommen weitere Personen nach Hause und schalten das Licht in meiner Wohnung an. Anscheinend gehe ich später mit dem Fahrradfahrer gemeinsam aus dem Haus, wir fahren zum Geldautomaten und danach was Essen. Endlich zieht er auch seine Mütze ab, so dass auch seine Frisur genau beschrieben werden kann.

Wahrscheinlich habe ich Burger und Pommes gegessen, aber das interessiert sie nicht mehr. War nur Schichtwechsel oder ist ihnen einfach langweilig geworden? Wenn sie schon mit zum Imbiss kommen, warum laden sie uns dann nicht ein?

Aufkleber und Busfahren

Ende März wartet das LKA vor dem Haus von Freund_innen auf mich. Wahrscheinlich haben wir uns am Telefon verabredet, um aber ganz sicher zu sein mich auch zu sehen, sind sie schon vier Stunden vor mir da. Deutsche Gründlichkeit.

So entgehen ihnen auch nicht mehrere Personen, die sie als Linke sehen. Die Beschreibung der Kleidung liest sich zeitweise wie aus einem Handbuch für Jung-Autonome. Viele Vorbeilaufende mit Kapuzenpullover werden protokolliert – besonders wenn sie das beobachtete Haus betreten oder verlassen.

In der Langeweile werden noch ein paar Aufkleber fotografiert. Gegen Faschismus und gegen den G8-Gipfel. Die beiden Kleber_innen sind verdächtig und werden genau beschrieben, gehen aber in ein anderes Haus.

Gegen 21 Uhr verlasse ich die S-Bahn-Stadion, steige in den Bus, fahre zu dem Haus und gehe 15 Minuten später rein. Einen Schlüssel habe ich nicht und so muss ich klingeln, was die letzte „Erkenntnis“ des Tages bleibt. Fünf Minuten später wird die Observation beendet.

Manchmal muss ich mir echt Mühe geben, das alles ernst zu nehmen.

Ende März am Strand

Weil mein Fahrrad nicht zu sehen ist, wird schon ab sechs Uhr morgens vor dem Haus einer Freundin auf mich gewartet.

Nachmittags fährt ein Auto zum Altglascontainer. Auch ich bin in diesem Auto und so wird ermittelt, auf wen es zugelassen ist, festgestellt, dass Fahrerin und Beifahrerin sich ähnlich sehen sollen und wir drei fahren zu einem Naturschutzgebiet mit See. Ganze neun Minuten ist das Auto dabei „außer Kontrolle“ geraten, sprich, es war nicht zu sehen.

Wir liegen auf einer Decke, spielen Ball und auch Sonnenbrillen können wir schon tragen. Unser Nachmittag wird in Stichworten und Uhrzeiten beschrieben, nicht ohne Details wie auch die Shirts zu beschreiben, die meine Freundinnen unter ihren Jacken tragen.

Danach gehen wir anscheinend in einem Möbelhaus essen und schauen uns um. Mitten im Laden wird die Observation an das MEK übergeben, dessen Protokoll ich nicht finden kann.

Wie viele waren eigentlich in diesem Laden? Waren da überhaupt noch andere Kund_innen?

Zu früher Stunde

Mein Fahrrad wird schon um 5:30 Uhr erspäht, gut viereinhalb Stunden bevor ich das Haus verlasse, um einzukaufen. Mein Schatten vom LKA verfolgt mich durch zwei Läden und bricht dann, nachdem ich zurück bin, aus „kriminaltaktischen“ Gründen die Observation noch weit vor dem Mittagessen wieder ab.

Na so was. Das war glaube ich das kürzeste Protokoll von allen.

Es ist als würde ich nur einkaufen

Morgens um 5:20 Uhr wird die Observation vom MEK übernommen, dessen Protokoll ich nicht finden kann. Sechs Stunden später stehe ich am Fenster, ich trage heute mal gestreift.

Im Laufe des Tages hole ich Geld und Kontoauszüge, gehe in die Post, werfe einen Brief in den Briefkasten der Post, gerate „außer Kontrolle“ und werde beim Kauf einer Melone ertappt, außerdem kaufe ich Saft und andere nicht näher beschriebene Dinge. Dann schließe ich mein Fahrrad vor der Wohnung an.

Nachmittags gehe ich in leicht veränderter Kleidung wieder los, über die Straße zu meinem Fahrrad und löse mich anscheinend mit diesem in Luft auf. Ich tauche nicht wieder auf und das MEK übernimmt die Observation der folgenden Nacht.

Von Ämtern und Banken

Das LKA scheint sich an die frühe Uhrzeit zu gewöhnen und steht Ende März schon wieder vor 6 vor meinem Haus. Ich verlasse meine Wohnung nach 11 und gehe zum Bezirksamt. Dort lese ich in der Wartehalle Zeitung und das Formular auf dem Tisch, der Schalter und die Sachbearbeiterin, zu der ich nach einer halben Stunde komme, werden möglichst genau beschrieben.

Danach gehe ich zu verschiedenen Geldautomaten, was das LKA vermuten lässt, ich würde kein Geld bekommen, in meine WG, dann zurück zum Amt, zum Schalter, zum Kassenautomaten und danach zur Dresdner Bank.

Die Dresdner Bank kündigte mein Konto kurz nach den Hausdurchsuchungen, die offensichtlichen Kartenprobleme waren anscheinend ein bisschen zu früh initiiert und so bekam ich kurz vor dem, mir damals noch unbekannten Ende meines Kontos, noch einmal eine neue Karte. Die alte sei schlicht kaputt. Ziemlich bald nach der Durchsuchung ging auch diese neue Karte kaputt und das Konto war weg.

Und zum Schluss noch eine Nacht

Das MEK folgt mir erst zum Falafelladen und danach zum autonomen Zentrum, das es mit dem Namen seines Trägervereins umschreibt. Dort bin ich gute drei Stunden um danach in eine Gaststätte zu fahren. Das MEK wartet anscheinend jeweils draußen.

Ich gehe mit zwei anderen zu meinem Fahrrad. Die Person, die „unbekannt“ ist, wird genau beschrieben, den anderen begleite ich noch eine Weile. Dabei unterhalten wir uns anscheinend über seine Arbeitsstelle. Laut Protokoll soll ich sogar Interesse an einer Besichtigung bekundet haben.

Danach fahre ich alleine zu meiner Wohnung, die Nacht über passiert nichts bis mein Mitbewohner die Wohnung morgens verlässt. Das MEK merkt hierzu an, dass er erfahrungsgemäß um diese Zeit das Haus verlasse, an diesem Tag sogar spät dran sei.

Ich wundere mich über mein Interesse an der Arbeitsstelle meines Bekannten und frage mich, ob wir laut geredet haben. Und wie früh mein Mitbewohner so anfängt zu arbeiten, hatte ich tatsächlich jahrelang verdrängt.

Vom darüber reden

Wir laufen durch unser Viertel und reden über die Akte. Wir sind beide ein gutes halbes Jahr observiert worden, andere weitaus länger.

Wir überlegen wie viele Menschen damit beschäftigt waren, können aber nur mutmaßen. Wie viele sind in einer Schicht? Wie viele Schichten sind es? Vier Schichten in 24 Stunden? Oder zwei? Ein, zwei, fünf Observierende pro Schicht – vier, acht oder 20 am Tag?

Was verdienen die? Was denken die sich dabei? Können die nachts schlafen? Erzählen sie ihren Bezugspersonen, was sie den ganzen Tag tun und ist da keine_r dabei, die ihnen sagt wie Scheiße sie sind?

Wir kommen zu dem Schluss, dass wir 20 bis 50 % von ihrem Lohn ab haben wollen und kaufen Bier.

1Das BKA wurde Anfang 2009 u.a. mit Geheimdienstkompetenzen ausgestattet. Mit dem neuen BKA-Gesetz soll so eine Polizeistelle geschaffen werden wie sie aus gutem Grund nicht mehr existiert hat.
Siehe auch: http://pressback.blogsport.de/images/bka_rote_hilfe_hamburg.pdf

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